Das Unrecht des Vertrages von Lissabon

Heute begann vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Verhandlung der Klagen gegen den Lissabon-Vertrag der EU.

Von KARL ALBRECHT SCHACHTSCHNEIDER, 10. Februar 2009 -

Der Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, Reformvertrag genannt, setzt die Politik der europäischen Integration fort, die mit den Römischen Verträgen 1953 und 1957 begonnen wurde und durch die Einheitliche Europäische Akte 1986, den Vertrag von Maastricht 1992, den Vertrag von Amsterdam 1997 und den Vertrag von Nizza 2001 weiterentwickelt wurde.

Durch den letzten großen Beitritt von 12 Staaten vor allem im Osten und Südosten der Union 2004 und 2007 leben in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union fast 500 Millionen Menschen. Die Integrationspolitiker wollen die Union auf eine neue Vertragsgrundlage stellen, die aber weitgehend das geltende Vertragswerk, den sogenannten Besitzstand, beibehält. Nachdem der Vertrag über eine Verfassung für Europa von 2004, der Verfassungsvertrag, in Frankreich und in den Niederlanden durch Volksabstimmung gescheitert ist, versucht der Vertrag von Lissabon dieses Vertragswerk im Wesentlichen, wenn auch ohne den ambitiösen Namen Verfassung zur Geltung zu bringen. Dieser Vertrag unterscheidet weiterhin den Vertrag über die Europäische Union (EUV) von dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der den bisher geltenden Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft weiterentwickelt.

Zugleich wird durch Art. 6 EUV die Grundrechtecharta der Europäischen Union, die in Nizza 2000 nur deklariert worden war und bisher keine völkerrechtliche Geltung hatte, verbindlicher Teil des Vertragswerks. Der Sache nach machen die Verträge die Verfassung der Europäischen Union aus. Hinzu kommen eine große Menge von Rechtsakten der Union, vor allem Richtlinien und Verordnungen, die fast alle Lebensbereiche ordnen, vor allem die der Wirtschaft. Das Unionsrecht, das unser Leben weitreichend und tiefgehend bestimmt, findet sich zudem in einer breiten Judikatur der Unionsgerichtsbarkeit, die sich in mehr als einem halben Jahrhundert entwickelt hat und deren amtliche Sammlung fast zwanzig Meter im Regal in Anspruch nimmt. Deutschland hat den Vertrag von Lissabon bisher genauso wenig wie Großbritannien, Polen, Tschechien und weitere Mitgliedstaaten ratifiziert, weil erst noch dessen Verfassungsmäßigkeit von den nationalen Verfassungsgerichten entschieden werden soll.

Auch in Österreich ist Verfassungsklage gegen den allerdings schon ratifizierten Vertrag eingereicht, wie in Deutschland (u.a.) von mir verfaßt. Die Iren haben den Vertrag durch Volksabstimmung abgelehnt. Damit ist der Vertrag gescheitert, aber man versucht, ihn doch so, wie er ist, oder ein wenig abgewandelt durchzusetzen. Falls der Vertrag von Lissabon zur Geltung kommt, verabschieden sich die Völker der Union endgültig von den fundamentalen Verfassungsprinzipien, die Grundlage ihrer politischen Kultur sind. Deutschland darf nach dem Integrationsartikel des Grundgesetzes nur „zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirken, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“ (Absatz 1 Satz 1 des Art. 23 GG). Die Mitgliedstaaten der Union sind schon jetzt, aber erst recht, wenn der Reformvertrag in Kraft tritt, keine Demokratien, keine Rechtsstaaten und keine Sozialstaaten mehr.

Sie büßen den Grundrechteschutz im Wesentlichen ein. Der Föderalismus der Mitgliedstaaten, die bundesstaatlich gestaltet sind, wird geschwächt; denn die Länder werden durch Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zu „regionalen Selbstverwaltungen“ herabgestuft. Dem Grundsatz der Subsidiarität wird die Wirksamkeit genommen. All die genannten Verfassungsprinzipien stehen nicht zur Disposition der Politik. Sie sind in Art. 1 GG, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt und Deutschland den Menschenrechten „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ verpflichtet, und in Art. 20 GG, wonach „die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ ist (Absatz 1) und vor allem „alle Staatsgewalt vom Volkes ausgeht“, die „vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ wird (Absatz 2), verankert.

Die Grundsätze dieser Artikel und insbesondere die „Gliederung des Bundes in Länder“ entzieht Art. 79 Abs. 3 GG einer Verfassungsgesetzänderung. Sie sind, was gewichtiger ist, die Verfassung der Menschheit des Menschen und darum jeder Politik entzogen, welche Verwirklichung des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit sein will und sein muß, wenn sie der Würde des Menschen gerecht werden will. Die europäische Integration leidet an einem unheilbaren Demokratiedefizit. Es gibt kein Volk der Unionsbürger, das die Ausübung der Hoheitsgewalt der Union zu legitimieren vermöchte. Ein solches Unionsvolk kann nur eine Unionsverfassung begründen, der alle Unionsbürger durch Volksabstimmung zugestimmt haben.

Ein solcher Schritt setzt voraus, daß zunächst die Völker der Mitgliedstaaten sich für einen solchen existentiellen Unionsstaat öffnen und ihre Staatsgewalt zugunsten der originären Staatsgewalt eines solchen Unionsvolkes einzuschränken bereit erklären. Das geht nicht ohne Volksabstimmungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, welche die Parteienoligarchien fürchten wie der Teufel das Weihwasser. In den Verfassungen der Völker ist verankert, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, in Deutschland vom deutschen Volk. Dieses Fundamentalprinzip der Demokratie dürfen die Verträge nicht unterlaufen.

Sie versuchen es aber, indem etwa fingiert wird, daß im Europäischen Parlament „die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar vertreten sind“ (Art. 10 Abs. 2 EUV). Diese Versammlung ist im Rechtssinne kein Parlament, sondern wird nur so genannt. Es hat keine demokratische Legitimationskraft, weil es nicht ein Volk mit originärer Hoheit repräsentiert, wenn jetzt auch erklärt wird, daß es aus „Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern zusammengesetzt“ sei (Art. 14 Abs. 2 EUV). Die Abgeordneten werden nicht nur nach unterschiedlichem Wahlrecht, sondern vor allem nicht gleichheitlich gewählt. Mit der politischen Freiheit ist es unvereinbar, wenn das Stimmgewicht der Wähler eines Parlaments ungleich ist.

Deren Stimmgewicht weicht bis zum Zwölffachen voneinander ab. Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung der Union leisten darum im Wesentlichen die nationalen Parlamente, wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil von 1993 geklärt hat. Das setzt aber voraus, daß die Parlamente die Politik der Union verantworten können, was wiederum voraussetzt, daß sie diese voraussehen können, wie das Gericht ausgesprochen hat. Davon kann angesichts der so gut wie unbegrenzten Weite der Ermächtigungen der Union keine Rede sein.

Ständig überrascht diese mit Maßnahmen, die niemand für möglich gehalten hat, die jedenfalls die Bundestagsabgeordneten nicht zu verantworten gewagt hätten. So hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Niederlassungsfreiheit das Ende der deutschen Unternehmensmitbestimmung eingeleitet.

Das fast ausnahmslos von diesem Gerichtshof um der Grund- oder Marktfreiheiten (Warenverkehrs-, Niederlassungs-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit sowie Arbeitnehmerfreizügigkeit) willen durchgesetzte Herkunftslandsprinzip, das nirgends in den Verträgen steht, aber mit einem Vertrauensprinzip begründet wird, das zur Anerkennung der Rechtsordnungen, der jeweils anderen Mitgliedstaaten, etwa deren Arbeits-, Lebensmittel- und Gesellschaftsrechts, verpflichte, führt dazu, daß in jedem Mitgliedstaat 27 Rechtsordnungen gelten, von denen nur eine, die des Bestimmungslandes, demokratisch von dem betroffenen Volk legitimiert ist. Demokratisch wäre die Rechtsetzung der Union, wenn den Rechtssätzen alle Parlamente der Mitgliedstaaten zustimmen müßten.

Das würde die Integrationsentwicklung nicht beschleunigen, aber der allgemeinen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen dienen. Man muß von den Parlamentariern erwarten können, daß sie zu einer Politik der praktischen Vernunft fähig sind und nicht lediglich Interessen bedienen. Eine Politik der praktischen Vernunft ist Erkenntnis von Wahrheit und Richtigkeit, die auch unions­weit Politik ermöglicht, zumal das Subsidiaritätsprinzip gebietet, daß sich die Union nur mit den Politiken befaßt, die gemeinschaftlich verwirklicht werden müssen, etwa gemeinsame Grundsätze der Handelspolitik und der Wettbewerbspolitik oder auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik.

Die Union wirkt aber in alle Lebensbereiche hinein, auch in die Hochschulpolitik, ja die Schulpolitik und die Familienpolitik. Nur die strikte Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes vermag eine gemeinschaftliche Ausübung der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten durch die Union, vorausgesetzt diese wird demokratisch gestaltet, zu rechtfertigen, wenn Europa europäisch bleiben soll, d.h. die nationale Identität der Völker geachtet wird, wie das Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zusagt.

Das Subsidiaritätsprinzip verantworten aber nach dem Vertrag von Lissabon ausschließlich Unionsorgane, letztlich der Gerichtshof. Ein Drittel der nationalen Parlamente kann ein mehr als klägliches Vorwarnsystem in Gang setzten, welches die Kommission nicht verpflichtet, den Rechtsakt zurückzuziehen. Wenn es um den Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht, also um Grenz-, Zuwanderungs-, Polizei- und Justizpolitik geht, genügt ein Viertel der Parlamente.

Die Subsidiarität muß jedoch rechtens jeder Mitgliedstaat selbst beurteilen, jedenfalls Deutschland nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG. Dem zuwider haben Bundestag und Bundesrat eine Ergänzung des Art. 23 GG durch einen Absatz 1 a beschlossen, wonach nur diese beiden Organe wegen der Subsidiaritätsfrage den Gerichtshof der Union anrufen können, auch nur in einer Frist von zwei Monaten. Das entzieht nicht nur dem Bundesverfassungsgericht die Subsidiaritätsverantwortung, sondern schließt es aus, die Subsidiarität gegen die Kompetenzausübung der Union in anderen Verfahren zur Geltung zu bringen, obwohl nach dem Maastricht-Urteil kompetenz- und damit auch subsidiaritätswidrige Rechtsetzungsakte der Union in Deutschland keine Wirkung entfalten dürfen. Kein Bürger kann sich nach dieser Änderung des Grundgesetzes noch auf das Subsidiaritätsprinzip berufen und keine Behörde und kein Gericht kann es mehr geltend machen.

Das ist eine unfaßbare Verletzung des demokratischen Prinzips. Darüber hinaus ruiniert die europäische Integration die seit der Aufklärung als unverzichtbar gelehrten und weithin gelebten Prinzipien des Rechtsstaates, namentlich die Gewaltenteilung und, schlimmer noch, den Rechtsschutz. Die Rechtsetzung der Union ist durchgehend exekutivistisch und nicht im freiheitlichen Sinne parlamentarisch. Ohne Demokratie gibt es keinen Rechtsstaat. Der Rechtsschutz ist weitestgehend, jedenfalls der Schutz der großen Prinzipien des Rechts, vor allem der Menschen- und Grundrechte, in die Hand der Unionsgerichtsbarkeit gelangt.

Diese aber ist durch nichts demokratisch legitimiert und damit zur Rechtsprechung im Namen eines Volkes oder der Völker nicht fähig. Die Rechtsprechung in Grundsatzfragen bedarf der starken demokratischen Legitimation. Jeder Mitgliedstaat stellt einen der 27 Richter des Gerichtshofs und des Gerichts der Union, die im gegenseitigen Einvernehmen der Regierungen für sechs Jahre ernannt werden, ausgerechnet von denen, die das Recht am meisten gefährden. Wirklich unabhängig sind solche Richter nicht.

In diesen Gerichten judizieren meist fremde Richter über das Recht von Völkern, das sie nicht kennen, dessen Sprache sie nicht sprechen und von dem diese nicht gewählt sind, geschweige denn, daß die Völker die Judikate der Richter zu verstehen vermögen. Der Gerichtshof der Union hat in einem halben Jahrhundert nicht ein einziges Mal einen von den unzählbaren Rechtsetzungsakten der Union als grundrechtswidrig zu erkennen vermocht. Der Grundrechtsschutz ist durch die europäische Integration weitestgehend verloren, jedenfalls im Bereich der Wirtschaft. Mit der Demokratie ist auch der Sozialstaat ruiniert.

Der Motor der sozialen Entwicklung ist nun einmal das demokratische Wahlverfahren. Dieses ist in der Unionspolitik so gut wie wirkungslos. Die verheerenden sozialen Entwicklungen sind tagtäglich zu beobachten. Sie werden allerorts beklagt, ohne daß die wirklichen Ursachen benannt werden. Weil die Union zur Sozialpolitik, die gesetzgeberisch gestaltet werden muß, trotz hinreichender Befugnisse wegen der Mehrheitsverhältnisse nicht fähig ist, entfaltet sich das Kapitalprinzip, gestützt durch die Deregulierungswirkung der Grundfreiheiten, die der Europäische Gerichtshof geradezu ins Extreme getrieben hat.

Die kraft des Unionsrechts weltweite Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 Abs. 1 AEUV ist das wirklich die Lebensverhältnisse in der Union bewegende Prinzip, das zu dem Verfall der Sozialstaaten geführt hat. Deutschland hätte die Finanzmarktkrise ohne die Kapitalverkehrsfreiheit abwehren können. Die Unionspolitik hat sich weit von den sozialen Grundrechten entfernt, die in den großen Menschenrechtserklärungen verankert sind, vor allem gänzlich von dem Recht auf Arbeit des Artikel 23 Absatz 1, aber auch schmerzlich von dem Recht auf Eigentum des Artikel 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.

Auch das Menschenrecht des Artikel 23 Absatz 3 „auf angemessene und befriedigende Entlohnung“ der Arbeit wird millionenfach mißachtet; denn es gibt ein Recht auf Entgelt, das es dem Arbeitnehmer und seiner Familie ermöglicht, „eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz zu sichern“. Heute müssen meist zwei Menschen, Mann und Frau, arbeiten, um das Leben einer Familie mehr oder weniger kärglich zu fristen, zumal wenn die Familie mehrere Kinder hat. Das menschenrechtliche Familienprinzip ist entwertet.

Die Europäische Union ist eine Region des globalen Kapitalismus. Die Welthandelsordnung, die keinerlei soziale Aspekte berücksichtigt, ist das wirkliche Grundgesetz unserer Lebensverhältnisse. Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands ist wegen des Verfassungsrangs des Sozialprinzips die marktliche Sozialwirtschaft. Nicht nur Effizienzgesichtspunkte, sondern auch die Wirtschaftsgrundrechte rechtfertigen die Marktlichkeit der Wirtschaftsordnung.

Diese aber muß sich dem Sozialprinzip fügen. Die Wirtschaft, vor allem das Kapital, darf nur eine dienende Funktion im Gemeinwesen beanspruchen. Von dieser Wirtschaftsverfassung hat sich Deutschland durch die Integration in die Europäische Union zugunsten einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 119 u.ö. AEUV) verabschiedet. Die Freiheit des Wettbewerbs ist nichts als Liberalismus ohne soziale Aspekte, der die ausbeuterischen Verhältnisse unserer Gegenwart ermöglicht.

Der globale Wirtschaftskrieg ist mangels wettbewerbsgemäßer Chancengleichheit rechtlos. Die Grundrechtecharta schwächt den Grundrechteschutz ungemein. Sie verlagert diesen weitestgehend, nämlich in allen Unionssachen, auf die Gerichtsbarkeit der Union. Diese ist weder demokratisch legitimiert noch gar strukturell zum Grundrechteschutz befähigt.

Ihre Judikate sind meist Apologie der Politik der Kommission und des Rates. Die Integrationsinteressen der Union jedoch setzt der Gerichtshof gegen die Mitgliedstaaten strikt durch. Er versteht sich als Motor der Integration. Die in der Grundrechtecharta vorgezeichnete Dogmatik wird die Grundrechte wie in der Weimarer Zeit der Gesetzgebung, jetzt den Maßnahmen der Union, unterwerfen und nicht etwa umgekehrt, wie nach dem Grundgesetz, die Gesetzgebung in die Schranken der Grundrechte weisen. Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Union endgültig ein Bundesstaat.

Die Aufgaben und Befugnisse der Union gehen längst weiter als etwa die des Bundes gegenüber den Ländern in Deutschland. Man bestreitet die Bundesstaatlichkeit der Union, weil sie nach dem Grundgesetz und nach den Verfassungsgesetzen anderer Mitgliedstaaten kein Bundesstaat sein dürfe. Das hängt freilich von dem Begriff des Bundesstaates ab. Die Union wird ein echter Bundesstaat, weil sie auf Vertrag beruht, nicht ein unechter Bundesstaat wie Deutschland und Österreich, die durch Verfassungsgesetze begründet sind.

Ein Bundesstaat, der wie die Union über Aufgaben und Befugnisse existentieller Staatlichkeit verfügt, muß demokratisch legitimiert sein. Diese originäre Legitimation könnte, wie gesagt, nur ein europäisches Unionsvolk geben. Der Unionsstaat verfügt spätestens mit dem Vertrag von Lissabon auch über weitreichende bundesstaatstypische Kompetenz-Kompetenzen.

Er kann nicht nur seine Befugnisse im Interesse der Zielverwirklichung ohne Mitwirkung der nationalen Parlamente erweitern (Art. 352 AEUV) und wird nicht nur ermächtigt, Unionssteuern zu erheben (Art. 311 AEUV), sondern maßt sich im „vereinfachten Änderungsverfahren“ des Art. 48 Abs. 6 EUV die Ermächtigung an, so gut wie das gesamte Vertragswerk ganz oder zum Teil (außer der Außen- und Sicherheitspolitik) durch Beschluß des Europäischen Rates zu ändern. Dem müssen die nationalen Parlamente nur zustimmen, wenn das in ihren Verfassungsgesetzen steht. In Deutschland und Österreich ist das jedenfalls nicht der Fall.

Bundestag und Bundesrat wie der Nationalrat können nur Stellungnahmen abgeben, die berücksichtigt werden können und sollen, aber nicht beachtet zu werden pflegen. Die Ermächtigung zum vereinfachten Änderungsverfahren ist nichts anderes als eine Diktaturverfassung. Der Vertrag von Lissabon verpflichtet die Mitgliedstaaten der Union nicht nur zur Aufrüstung (Art. 42 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV), sondern schreibt sich in Art. 43 Abs. 1 EUV ein Recht zum Kiege zu, das ius ad bellum, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus in aller Welt.

Das verdrängt das Verbot des Angriffskrieges des Art. 26 Abs. 1 GG. Dazu paßt es, daß für den Fall des Krieges oder drohender Kriegsgefahr entgegen dem Grundrecht auf Leben nach den näheren Regelungen der Grundrechtecharta die Todesstrafe eingeführt werden darf, auch durch Beschlüsse des Rates über die allgemeinen Durchführungsbestimmungen von Missionen (Art. 43 Abs. 2 S. 1 EUV).

Die Verfassung der Europäischen Union muß neu geschrieben werden – aber ganz anders, nämlich so, dass wir in einem europäischen Europa leben können, in einem Europa der Freiheit und des Rechts, der Demokratien und der Sozialstaaten, in Republiken, nicht in einer Diktatur der Industrien, Banken und ihren einem machtvollen Lobbying ausgesetzten Bürokratien. Das vereinte Europa kann rechtens nur eine Republik von Republiken sein, ein „Föderalism freier Staaten“, wie in Kant in seiner wegweisenden Schrift „Zum ewigen Frieden“ entworfen hat.

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